Wir hielten uns für Franzosen, Chinesen und Russen, für gelb und weiß und schwarz, aber das ist unsere erste Barbarei. Wir hielten uns für christlich, hedonistisch und muselmanisch und ich weiß nicht was, aber das ist unsere zweite Barbarei. Wir hielten uns für wissenschaftlich und für Entdecker der Sterne - und für die Konsumenten aller bestehenden Arten -, doch das ist unsere dritte Barbarei. Wir verschlingen alles, aber wer verschlingt was? Wir wissen alles, aber wer weiß was?
Nach dem religiösen Mittelalter das wissenschaftliche Mittelalter. Und wir wissen nicht, welches das schlimmere ist.
Dennoch ist es einfach - und sehr schwierig.
Die Evolution einer Spezies liegt nicht in dem, was sie über sich selbst denkt, wenn auch die Fähigkeit des Denkens uns helfen mag, den Gang zu beschleunigen und den Sinn zu erkennen. Eine Evolution der Arten findet im Körper statt, das ist seit 400 Millionen Jahren offensichtlich. Wenn es darum geht, vom Hai zum Seehund auf seiner Eisscholle überzugehen, ist es von geringer Bedeutung, ein gelber oder weißer oder schwarzer Fisch gewesen zu sein, nicht einmal ein wissenschaftlicher Fisch, denn es ist in jedem Fall eine Wissenschaft des Fisches und somit eine überholte Wissenschaft.
Aber seht doch ein! werden die Wissenschaftler sagen, wir leben unter den Sternen, aufrecht auf zwei Beinen, wir haben sogar Teleskope und Mikroskope - und wir können alles zählen, sogar die Anzahl eurer Atome, und humorlos können wir feststellen, daß ein Salzkörnchen eine Billion Billionen Atome enthält.
Doch das ist falsch: wir leben nicht unter den Sternen und nicht in dieser atomaren Rechnung, wir leben im Tod. Unsere Wissenschaft ist eine Wissenschaft des Todes, genauso wie unsere Theologie. Die erste evolutionäre Tatsache, die grundlegende Tatsache des Lebens, ist der Tod - wir sehen alles, wissen alles und empfinden alles durch diese Mauer des Todes hindurch, genauso wie der Fisch es durch seine Wasserschicht tut. Die größte aller Hochstapeleien der denkenden Menschen ist, dies je als "Leben" bezeichnet zu haben. Das ist die sensationellste Fehlbenennung seit Anbeginn der Geschichte. Es kann nicht einmal die Rede von einer Symbiose von Leben und Tod sein, denn dieses "Leben" ist der Tod. Es ist eine Nekro-biose.
Aus Mangel an Mut, diese einfache grundlegende Tatsache der Evolution der Arten zu erkennen, sind wir in alle möglichen falschen Richtungen geprescht, mit all den falschen Mitteln.
Das fliegt uns jetzt ins Gesicht.
Der Lascaux-Mensch kam vor vierzehntausend Jahren - uns ist noch immer nicht gelungen, unser menschliches Geheimnis zu finden...
Welche falschen Wege haben wir also verfolgt?
Es gilt "den Gang zu beschleunigen", wenn es nicht bereits zu spät ist.
Es gilt den Riß in der Mauer zu finden, diese Stelle im Körper, in der die Möglichkeit für den nächsten Schritt der Spezies oder die nächste Spezies liegt. Und in welcher Richtung müssen wir überhaupt suchen? Offensichtlich nicht in einer Verbesserung unserer Gehirnwindungen oder anderen Erfindungen, genauso wenig wie zusätzliche oder bessere Flossen dem Hai halfen, zur Amphibie zu werden.
Amphi-bie heißt ein Wesen, das auf "beiden Seiten" lebt (oder auf beiden Seiten stirbt, ganz wie man will). Wir sind keine Amphibie: wir "leben" nur auf einer einzigen Seite, jener des Todes. Von der Erde, den Planeten und allen nur möglichen Sternen - ohne von uns selbst zu sprechen - kennen wir nur die "Seite des Todes". Was liegt auf der anderen Seite der Mauer? - Ohne eine Leiche zurückzulassen?
Sehen wir doch auf der anderen Seite der Mauer, da liegt der "reine Geist" oder eine Kiste im Friedhof. Sehen wir weiter wo ist eure "Mauer"? Wir haben sie noch nie mit unseren Mikroskopen gesehen! Wir haben Herzanfälle, Tuberkel, flache Enzephalogramme und von Lastwagen Überfahrene gesehen, und dann die Gebeine in einer Kiste. Aber wo ist eure Mauer? Die wäre doch sichtbar!
Wir sehen nichts, genauso wenig wie der Fisch in seinem ozeanischen Goldfischglas. Wir haben alle "Lebensbedingungen" definiert, ohne zu merken, daß es Todesbedingungen sind. Wir sagten: jenseits soundso viel Grad Celsius bedeutet es den Tod; jenseits dieses atmosphärischen Druckes bedeutet es den Tod; jenseits dieser Konzentration von Sauerstoff bedeutet es den Tod; jenseits die Liste aller "Jenseits" des Lebens nimmt kein Ende, weil es all die "Jenseits" des Todes und all die Mauern unseres Gefängnisses sind - innerhalb dessen wir uns für wohlauf und lebendig halten. (Nicht mehr ganz so wohlauf in letzter Zeit.)
Aber das ist eine Lüge.
Es könnte durchaus sein, daß diese einfache grundlegende Tatsache der Evolution uns auch den Schlüssel zum nächsten Schritt der Evolution liefert, oder wie Sri Aurobindo es ausdrückt, zur "neuen Evolution", und zwar nicht die von Lamarck oder Darwin, sondern jene der Entstehung des ersten Lebens auf der Erde - die Nekro-biose wird ihres falschen Namens enthauptet.
Der Große Riß in der Mauer der Evolution.
Die Schwäche einer Spezies ist ihr bestes Mittel, zu etwas anderem überzugehen.
Die nächste Spezies ist keine "Verbesserung" der vorhergehenden. Nicht etwas Hinzugefügtes wie Flossen, Pfoten oder Flügel, oder zusätzliche Hirnwindungen, sondern etwas, das wegfällt, und dieses wegfallende Etwas ist im wesentlichen "das, was den Tod bewirkt", den Tod aller Arten. Der vorzeitliche Kokon, der alles umhüllt und alles verfaulen läßt.
Es gibt keinen "Übermenschen", sondern einen anderen Menschen, oder vielleicht einen ersten Menschen, denn bis jetzt waren es kaum mehr als sterbliche Tiere mit einer mehr oder weniger geschickten Intelligenz begabt, um ihrem traurigen Schicksal nach oben oder nach unten zu entfliehen.
Weder die spirituelle Höhe noch die materielle Tiefe helfen uns, sondern das Innere unseres Körpers - und zwar ein so tiefes Inneres, daß es vielleicht zu einer Zeit vor den Trilobiten und der Lithosphäre zurückreicht. Wir haben nichts von den "Außerirdischen" zu erhoffen, sondern ein mächtiges Geheimnis eines unbekannten Innerirdischen.
Wir erkennen also bereits eine Richtung - diese sterbliche Schwäche -, und das ist der erste Schritt, um den Schlüssel zu erhaschen.
Es ist so offensichtlich - um etwas Philosophie zu treiben (eine aquatische und demnächst amphibische) -, daß nichts im Universum sein kann, wenn nicht um der Freude willen. Eine Schöpfung oder "Seinsart" für Tod, Hölle und Schmerz ist eine Sinnlosigkeit, außer wir sagen wie die armen Gladiatoren im römischen Zirkus: Ave Caesar, morituri te salutant, "Heil Cäsar! Wir, die sterben werden, grüßen Dich!"
Und es scheint genauso offensichtlich, daß dieser tierische Körper, Produkt der Evolution und hervorgebracht vom Tod - von unzähligen Toden -, keinen anderen erkenntlichen Sinn hat, als das Geheimnis des Nicht-Todes und das Lachen der Freude in genau diesem, aus dem Tode hervorgegangenen Körper zu finden.
Dies ist die große Herausforderung der Evolution und der nächste Schritt der Spezies.
Die Religiösen und die Wissenschaftler haben uns in die Irre geführt.
Sowohl die Wissenschaft als auch die Religionen haben uns gelähmt - man könnte sagen, verdummt -, unserer eigenen Mittel und unseres eigenen evolutionären Geheimnisses beraubt, die einen, indem sie uns in den Himmel schickten, und die anderen in die utilitaristische Mechanik. Wir sind nicht wissenschaftlich, sondern gelähmt. Sind wir überhaupt "menschlich"? Wir besitzen Telefon, Telex, Flugzeuge und was weiß ich - alle möglichen Mittel, um im Gefängnis zu sterben, wissenschaftlich verzeichnet und verriegelt, alles Nötige, um nicht den Schlüssel finden zu müssen. Dazu eine Medizin mit allen Mitteln, um an ihren Heilungen zu sterben.
Wo aber ist das Leben?
Schließlich gab es Sokrates: "Erkenne dich selbst".
Sokrates haben sie ermordet.
Schließlich gab es Prometheus, der den Menschen das göttliche Feuer bringen wollte.
Ein Mythos?
Symbolisch, könnte man sagen, nahm der Westen im Jahr 399 vor Christus, am Tage von Sokrates' Schierlingsbecher, eine tödliche Wende. An diesem Tag entfernten wir uns unwiderruflich vom Schlüssel. Von dieser Insel der Schönheit und der Anmut, die to kalon to epieikes, "was schön ist, ist wahr", als Devise genommen hatte, sanken wir langsam in die römische Barbarei, deren Schrei auch jetzt noch über unsere fünf Kontinente hinweg hallt: panem et circenses: "Brot und Spiele". Dann, noch langsamer, aber auch heimtückischer, erfaßten uns die Fangarme einer Kirche, die sich als Gegenteil der römischen Brutalität darstellen wollte, aber dennoch mit einigen schrecklichen Scheiterhaufen endete und uns in ein vorgefertigtes und von Gott befohlenes Wissen einschloß, aus dem der einzige Ausweg in die materialistische Revolte führte, den Sturz in einen gewissen menschlichen Dreck.
Aus diesem Dreck gelingt es uns nicht herauszukommen, trotz unserer betäubenden Triumphe.
Vielleicht haben wir mehr "Brot", vor allem aber haufenweise "Circus": von Fernsehen und Radio ausgestrahlt, verbreitet er Mord und Gewalt, als brächen sie überall aus unserer eigenen Haut hervor - aus diesem unbekannten Tierkörper, von dem wir glauben, alle seine Gesetze verzeichnet und das letzte Atom in unsere neue wissenschaftliche Kirche eingesperrt zu haben wie in ein Grab. Es ist ein Gefängnis, und seine Wunder sind grausam. Es ist eine erstickendere Bastille als jene der Kapetinger oder der Inquisition. Unsere Morde und unsere Gewalttaten, unsere Drogen, unsere Viren sind ein Schrei der Erde, ein letzter Aufstand gegen uns selbst, weil wir unseren Sinn nicht gefunden haben - wie die materialistische Revolte es gegen das ekklesiastische Gefängnis war, nur radikaler und bis in die Tiefe unserer Zellen.
Folgt nach dem religiösen und wissenschaftlichen Mittelalter ganz einfach das Zeitalter der Bestie? Täuschen wir uns nicht: wir stehen nicht am Ende einer "Zivilisation", so wie wir eines Tages ans Ende des Römischen Reiches kamen, sondern wir stehen ganz einfach am Ende des Menschlichen Reiches.
Hat es den Menschen denn überhaupt je gegeben? Vielleicht existiert
der Mensch noch nicht? Ihm fehlt der Schlüssel zu seinem physischen,
evolutionären Geheimnis, das ihn für immer von seinen Teufeln
und von seinen Göttern befreien würde - von seinem tödlichen
Gefängnis. Eine Evolution kann nicht innehalten, bis sie ihr ganzes
Geheimnis findet: und zwar im Keim, in unseren eigenen Zellen, die vielleicht
aus etwas anderem bestehen als aus dieser fratzenschneidenden Desoxyribonukleinsäure,
auf die unsere Zauberer so stolz sind. Und vielleicht geschehen die Umwälzungen
unseres Zeitalters genau deshalb, um uns zum Geheimnis zu zwingen.
* * *
Als Sokrates geboren wurde, war Buddha, auf einige Jahre genau, soeben ins Nirvana eingetreten, und Aeschylus schuf gerade seinen Prometheus. Drei große menschliche Samenkörner, deren letztes rätselhaft und unbekannt bleibt. Fast gleichzeitig.
Man könnte auch sagen, daß Asien mit Buddhas Nirvana eine Wende nahm, die sich zwar nicht als "fatal" bezeichnen läßt wie die des Westens, weil sie sanft und gut und barmherzig war - denn bereits damals befahl er diesen "Unwissenden", wie Buddha sie nannte, ihren Sinn und ihre Wirklichkeit zu finden. Doch diese "Wirklichkeit" brachte Asien in eine Wendung ohne Ausgang, zumindest aus irdischer Sicht, weil sie uns in ein Nichts zurücksandte, das wir demnach nie hätten verlassen sollen, außer durch irgendeine Verwirrung, von der wir nicht sagen könnten, ob Gott, der Teufel oder wir selbst ihr Urheber waren.
Unsere materialistische Wissenschaft hatte all das aber bald eingeebnet und den Osten wie den Westen in einen gleichen schlammigen und utilitaristischen Brei gestampft, der inzwischen alle unsere Kontinente bedeckt.
Gewiß, man kann sich weiterhin schönen Meditationen im eigenen Zimmer hingeben, individuellen "Befreiungen" - dagegen ist nichts einzuwenden, das ist sogar erfrischend inmitten unserer verworrenen Welt -, doch die Erde bleibt in Ketten, wie Prometheus auf seinem Kaukasus, und die schlammige Osmose wird bald kein einziges Bewußtsein mehr stehen lassen. Denn wir dürfen uns auch keinen Illusionen hingeben: die Insel der Schönheit überlebt nie eine sie umgebende Barbarei - in Tibet genauso wenig wie in Athen.
Das wird ja auch immer schlimmer: heute sind wir schon mehr als fünf Milliarden.
Ziemlich erschreckend.
* * *
Dieses Samenkorn liegt noch im Stadium des Mythos oder der Dichtung, ein Lichtpunkt auf einer sehr verwischten und völlig intellektualisierten Fährte, doch wir brauchen einen konkreten Weg, ein konkretes Geheimnis, einen evolutionären Hebel, durch den wir den nächsten Schritt tun können, heraus aus einer neuen Eiszeit oder Apokalypse - die nichts verändern, weil alles wieder von vorne zu beginnen ist, bis wir das Geheimnis unserer Zellen erreichen. Es gibt nichts Unerbittlicheres als eine Zelle, sie ist die Beharrlichkeit schlechthin, und die Jahrmillionen zählen nicht.
Warum nicht jetzt? Gerade weil wir an alle nur möglichen falsche Tore gepocht haben.
Das Feuer...
Prometheus wollte den Menschen das göttliche Feuer bringen. Und wo sollen wir es suchen, wenn alle Geheimnisse Indiens uns in die Transzendenz verweisen?
Nicht alle.
Lange vor den Griechen, sehr lange vor Buddha und den Upanischaden,
und vielleicht sogar vor der ersten ägyptischen Dynastie, drei bis
fünf Jahrtausende vor unserem jungen Christus, gab es auf den Gipfeln
des Himalaja seltsame Sänger, die man Rishis nannte, deren
Hymnen und Geheimnisse ebenso intakt blieben wie jene der Hypogeten und
der Fresken in Theben, weil man sie wiederholte und wiederholte, von Vater
zu Sohn und von Meister zu Schüler, auf die geringste Intonation achtend,
wie es sich bei heiligen Formeln gehört. Von diesen Hymnen, die man
Veda
nannte, bleibt ein gewisser Rig-Veda, dem göttlichen Feuer,
Agni, gewidmet, und von Sri Aurobindo entschlüsselt - wie die
Hieroglyphen von Champollion. Aber nicht mit Hilfe irgendeines "Rosettensteins"
entschlüsselt, nicht einmal mit Hilfe eines höheren Wissens,
sondern durch die eigentliche Erfahrung des Körpers und der Zellen
von Sri Aurobindo entschlüsselt und wiedergefunden: "Ah! das
ist es." Das ist der Sinn! Das Wiedererkennen der Zellen. Man mag denken,
was man will, aber der Körper hat seine eigene Art, seine Mutter wiederzuerkennen.
O Feuer, Du bist das Kind des Himmels
durch den Körper der Erde...
O Feuer, Du bist das Kind des Wassers,
das Kind der Wälder,
Sogar im Stein bist Du zugegen für den Menschen.1
Dort liegt ein Geheimnis.
Und dies:
Unsere Väter zerschmetterten mit ihrem Schrei
die starken und unnachgiebigen Orte;
durch ihren Schrei
brachen sie den Bergfels in Stücke;
sie schufen in uns einen Übergang
und entdeckten den Tag und die Sonnenwelt.2
Dieser "Fels", diese "starken und unnachgiebigen Orte", sind vielleicht genau unsere "Mauer des Todes" und die unsichtbare Bastille, gegen die die Erde revoltiert.
Der nächste Schritt unserer Spezies.
Email: info@daimon.ch
Daimon Verlag