Daimon Verlag
Evolution II
von
Satprem
Leseprobe
Kapitel 1:
Darwin stellte sich gewiß einige Fragen, als ihm nach und nach unzweifelhaft
klar wurde, daß auch die Königin Viktoria von einem Affenweibchen
abstammte. Auch der große Erzbischof von Canterbury. Es war fast
wie ein "Mordgeständnis", gab er zu, bevor er sich in den Ursprung
der Arten vertiefte; es machte ihn zum Agnostiker, und die gesamte
biblische und religiöse Lehre der Unveränderlichkeit der Arten
brach zusammen - eine weit tieferreichende Revolution als die der Bastille
von 1789. Letztere verwandelte zwar Europa von Grund auf, aber diesmal
wurde die Welt der letzten vier Milliarden Jahre in Frage gestellt.
Vielleicht besteht die wesentliche Eigenheit des Menschen darin, Fragen
zu stellen und Dinge in Frage zu stellen.
Auch seine homozentrische Schöpfungslehre.
Man wechselt die Politik, die Religion und die Ideen - sogar sehr viele
Ideen seit einigen Jahrtausenden der Menschheit. Sri Aurobindo sagte: "Das
Mental ist eine unendliche Schlange, die sich endlos um sich selber windet."
Das kann lange so weitergehen. Wechselt man aber den Menschen?
Nicht den Menschen "verändern", denn er ändert sich sehr leicht,
wie das Kamäleon, bleibt dabei aber vollkommen ein Kamäleon -
nicht mehr allzu vollkommen in letzter Zeit. Doch vom Menschen, der als
Homo
sapiens bezeichneten Spezies, zu etwas anderem übergehen, wie
die kleine Eidechse nach dem Fisch, nur vielleicht noch radikaler? Mit
ihrem stets gegenwärtigen Humor sagte Mutter (über die Reinkarnation):
"Man hängt den Mörder, schön und gut, aber er macht in einem
anderen Hemd weiter." (!) Das Menschenhemd wird allmählich sehr alt.
Die Mörder auch. Unsere Ideen auch - noch eine Windung um die große
Schlange?
Darwin untersuchte Iguanas, Schildkröten und Gürteltiere -
die lassen sich wenigstens untersuchen, und sie fossilisieren ohne Päpste
und Posaunen und auch ohne Ideologie. Aber schließlich wechseln die
kleinen Fische auch ihre Hemden, und wie sich eins aus dem anderen ergibt,
sozusagen von Hemd zu Hemd, werden sie vollkommene Menschen - mit welchem
göttlichen Recht? Und für immer?
Vor nicht sehr langer Zeit erklärte ein "großer" amerikanischer
Staatschef ungeniert: "Wir stehen an der Spitze der Welt." Aber auch das
wird zu fossiler Materie werden, ohne Unterschiede der Ideen oder der Religion
- meßbar an der Masse der Kalkablagerungen.
Stellen wir also die Frage, die uns erlauben würde, etwas anderes
zu werden als eine bestimmte Menge Kalk in einem bestimmten Hemd.
Ich wunderte mich schon immer - jedenfalls seit Lamarck1, der seine
Zoologische
Philosophie genau in Darwins Geburtsjahr zu schreiben wagte -, warum
diese provisorischen "Chefs" der Zoologie sich nie fragten: Nach dem Menschen,
wer?
Mit so vielen Kanonen und sapiens, wie könnte man da dieses
Hemd entthronen? Die vorzeitlichen und königlichen Affenweibchen hätten
auch nicht anders "gedacht", die Hammerhaie und Tyrannosaurier auch nicht.
Vor allem aber stellt sich die Frage: Nach dem Menschen - wie?
Hier gelangen wir zur angewandten Zoologie oder zum Evolutionismus in
vivo.
Es ist durchaus möglich, daß all diese Milliarden Jahre der
Evolution nur auf den einen Punkt zustrebten, wo eine einzige Spezies fähig
wäre, sich über sich selbst zu beugen - nicht um ihre Welt, ihre
Flossen, Pfoten oder "Ideen" über die Welt zu verbessern, sondern
um diesen Haufen Kalk und Gewebe zu untersuchen und zu entdecken, was daraus
hervorgehen könnte: wie sich das willentlich verändern läßt,
durch welchen Mechanismus und durch welche innewohnende Macht?
Hier geht es um nichts Geringeres als eine zoologische Revolution. Wir
suchen nichts Geringeres als den Hebel oder die verborgene Sprungfeder,
die dennoch diesem Körper innewohnt, um uns die Pforten einer Neuen
Evolution zu öffnen, wie es sie seit den ersten Einzellern vor drei
Milliarden Jahren noch nie gegeben hat: die Evolution II.
Ja, es ist ein wenig wie ein "Mordgeständnis", eine Ungeheuerlichkeit
anti-wissenschaftlich, anti-religiös, ja sogar anti-menschlich. Aber
waren die ersten kleinen Seehunde je anti-Fisch? Die Evolution ist "anti"
gegen nichts: sie schreitet voran. Und sie spottet über unsere Anmaßungen.
Mit all unserem Klüngel und Gerümpel sind wir vielleicht erst
die Vorgeschichte des Menschen.
Du brichst den Hügel unseres Wesens inzwei
weil er dir nicht die eingekerkerten Schnelligkeiten
des Lebens hingab.
Rig Veda, V.54.5
2. Das günstige Milieu
Ich war genau dreißig Jahre alt, als ich mich in dieses Abenteuer
der Zukunft des Menschen stürzte. Nennen wir es, um es einfach auszudrücken,
den Herstellungsvorgang dessen, was auf den Menschen folgen wird - nicht
seine "Verbesserung" bezüglich Heiligkeit, Intelligenz, Handlungsmittel,
"Erfolgs"-Macht, nichts um den Artgenossen in Staunen zu versetzen, denn
mir ging es entschieden um die nächste Art. Die gegenwärtige
Zoologie, selbst wenn sie wissenschaftlich oder sogar spirituell war, erschien
mir wie eine schlechte Fälschung mit häßlichen Kavernen
und Schluchten oder ohnmächtigen Höhen ohne Zukunft außer
in problematischen Himmeln. Es ist wahr, daß Indien uns mit seinem
Reinkarnationsbegriff rationalere Öffnungen bot: man geht von Leben
zu Leben, wächst, stopft die Löcher alter Schwächen durch
erneuerten Mut, besiegt den Feind, den man nicht zu exorzisieren verstand
oder nicht erkannte; der Film läuft weiter, um die Niederlagen in
neue Kräfte zu verwandeln und die alten, zu Gefängnissen gewordenen
Erfolge niederzureißen. Man weitet sich, der Blick umfaßt immer
mehr Menschheit. Doch letztlich bleibt es immer dasselbe Drehbuch mit verschiedenen
Höhepunkten und Tiefen oder wechselnden Farben. Man liebt, lacht,
weint. Dann betrachtet man das menschliche Drehbuch in seiner Gesamtheit
und nicht mehr nur in Bezug auf sich selbst und die eigene Befriedigung.
Die Geschichte nimmt ein Leben an wie das eigene. Das Spiel der wettstreitenden
Kräfte, der kollektive Hypnotismus des Augenblicks, der menschliche
Fortlauf tritt sichtbar hervor. Konturen zeichnen sich ab und Bruchlinien
wie wandernde Kontinente des vorzeitlichen Gondwana... die wohin driften?
Dann diese wachsende Masse, die sich mehr in Grobheiten vermehrt als in
Verfeinerung, die sich immer mehr vervielfältigt, wie ein Stein am
Hals der Erde. Was kann man für all das tun?
Der Evolution ist die Kunst eigen, sich des Schlechten ebenso zu bedienen
wie des Guten: alles dient zum Vorwärtsgehen, die schlimmsten Katastrophen
sind ihre besten Anlässe für Erfindungen und Entdeckungen (Ent-Deckungen).
Alles Verneinende und Widerstrebende wird ebenso ihren Ofen heizen wie
ihre Propheten. Man muß sich schon eingestehen - wie ich es tat,
als ich nach Indien zurückkehrte -, daß die "Umgebung" nicht
günstig ist, das heißt sie ist höchst günstig für
etwas anderes. Auch Indien spricht von "Pralaya", dem Untergang der Welt,
aber um wieder eine neue anzufangen: demnach soll es sechs "Pralayas" vor
unserer gegenwärtigen Erde gegeben haben. Siebenmal die Erde. Sieben
evolutionäre Drehbücher... um bei einem intelligenten und mehr
oder weniger zerstörerischen Hominiden zu "enden", der sein besonderes
kleines Drehbuch abwickelt, sich vermehrt und wieder von vorne anfängt
- bis auf den Tod? Und dann eine achte Erde anfangen? Es muß doch
trotz allem einen höchst ungünstigen Augenblick geben, der ein
günstigeres Milieu oder Wesen entstehen läßt, das der Schönheit
und Dauerhaftigkeit der Erde besser entspricht. Der als "sapiens" bezeichnete
Homo
ist keineswegs dieses Instrument, obgleich er sehr wohl dazu dienen mag,
das nächste Wesen herzustellen: nur, durch welchen körperlichen,
physischen Mechanismus? Es muß doch einen geben, nach all den kleinen
Tieren, die vor uns kamen. Die Evolution interessiert sich genausowenig
dafür, unsere Hirnwindungen, Autobahnen, Flugzeuge oder phantastischen
Ideen zu vervielfältigen, wie sie die Zähne des Haies oder die
Beine des Tausendfüßlers mehren will. Aber sie kann sich
unserer eigenen Erstickung bedienen, um unsere Mauern niederzureißen,
wie sie eines Tages die austrocknenden Sümpfe benutzte, um den alten
Fisch zu nötigen, eine andere Atmung zu erfinden. Der Fehler ist stets
zu glauben, die kleinen Tiere - seien sie wissenschaftlich, akademisch
oder päpstlich der einen oder anderen Richtung - wären das endgültige
"Milieu": sie grenzen unser Gefängnis ein, das ist alles, wenn auch
jeder dasselbe Geheimnis in seiner Haut trägt. Die Evolution sprengte
mehr als ein Gefängnis vor uns - mit demselben Geheimnis in der Haut
jedes kleinen Gefangenen. Und vielleicht ist ihr letztes Geheimnis - das,
was sie antreibt, was sie bewegt -, endlich das Wesen ohne Gefängnis
hervorzubringen, nicht mit Hilfe eines weiteren künstlichen Werkzeugs
sondern mit genau dem, was schon im Herzen des ersten Einzellers und des
ersten Atoms zugegen war.
Was ist dann dieses "Ding", das kein Wissenschaftler unter seinem Mikroskop
sah, kein Priester von seinem hohen Stuhl und kein Mensch vor seiner Nasenspitze?
Dennoch sahen die Wissenschaftler es, manche Weisen berührten
es flüchtig, und zahlreiche einfache und unglückliche Menschen
atmeten es. Aber niemand brachte die drei Dinge in einer einzigen menschlichen
Physiologie zusammen.
Wenn wir 1+1+1 zusammenbringen können, werden wir eine neue Spezies
auf der Erde hervorgebracht haben.
Der Schatz des Himmels
verborgen in der geheimen Höhle
wie das Kleine des Vogels,
innerhalb des unendlichen Felses
Rig Veda, I.130.3
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