Ungefähr im Jahr 1945 las ich Hesse zum erstenmal. Seine Bücher waren zu jener Zeit noch fast unbekannt in Chile, sie wurden nur von einem kleinen Kreis von Lesern geschätzt und verstohlen diskutiert. Als Hesse den Nobelpreis für Literatur erhielt, begann man seine Werke in viele Sprachen zu übersetzen. Trotzdem wurden sie nur in wenigen Ländern mit Enthusiasmus begrüßt; die englisch sprechende Welt zum Beispiel empfindet ihn als schwerfällig und langweilig. Dies ist auch der Grund, warum es noch keine englische Ausgabe seiner Gesammelten Werke gibt. Ich brauchte einst Tage, um eines seiner meist gelesenen Bücher in London aufzutreiben: ich wollte es einem Freunde schenken, der in der Literatur sehr bewandert war, Hesse aber nicht kannte. Hingegen wird er in den spanisch sprechenden Ländern von vielen immer und immer wieder gelesen. Für die jungen Spanier und Südamerikaner ist Hesse eine Art Prophet. Ein mexikanischer Maler schenkte mir die farbige Photographie eines Bildes, auf dem er den Magister Musicae und Josef Knecht - aus Hesses Glasperlenspiel - dargestellt hatte. Der Lehrer sitzt am Klavier, und der junge Knecht begleitet ihn auf der Violine. Das Buch hatte dem Mexikaner einen so großen Eindruck gemacht, daß er das Bild malte und es Hesse als Geschenk sandte. Ich verstehe und teile diese Begeisterung. Ich würde auch heute noch um die halbe Welt reisen, um ein für mich wichtiges Buch zu finden, und ich bringe den Autoren, denen ich etwas Wesentliches zu verdanken habe, tiefe Bewunderung entgegen. Ich kann die heutige Jugend nicht verstehen, die sich mit dem begnügt, was man ihr an Büchern gibt, ohne selber darnach zu suchen oder Begeisterung dafür aufzubringen. Ich würde lieber auf das Essen verzichten als auf Bücher. Übrigens habe ich mir nur selten Bücher ausgeliehen; mein Wunsch ging stets dahin, sie ganz zu besitzen, um Stunden und Tage in ihrer Gesellschaft verbringen zu können. So wie die Menschen, haben wohl auch Bücher ihr eigenes Schicksal. Sie kommen zu den Menschen, die sie erwarten, und sie kommen im richtigen Moment. Sie sind aus etwas Lebendigem entstanden, und ihre Ausstrahlung bleibt noch lange nach dem Tod ihres Verfassers erhalten.
Mein erstes Hesse-Buch war Demian. Es hat mich außerordentlich beeindruckt und mit einer Kraft erfüllt, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Ich las es in spanischer Übersetzung; wahrscheinlich wies diese manche Fehler auf. Und doch spürte ich den von diesem Werk ausgehenden Zauber und seine Stärke. Hesse schrieb es in jungen Jahren, als er in Baden, im Hotel Verenahof, wohnte; und er hat sich mit solcher Intensität darauf konzentriert, daß es nach vielen Jahren noch immer lebendig und wirkungsvoll ist.
Wie viele Menschenleben hat Demian beeinflußt! Zweifellos haben Hunderte versucht, sich seine Kraft und Heiterkeit zu eigen zu machen. Nach der Lektüre dieses Buches pflegte ich stundenlang durch die Straßen meiner Heimatstadt zu wandern, durchdrungen vom Gefühl, neu geboren und Träger eines Zeichens oder einer Botschaft zu sein. Nicht nur für mich, sondern für ganze Generationen war Hesse mehr als nur ein Schriftsteller oder Dichter. Die Magie seines Werkes berührt Regionen, in die sonst nur das Religiöse vordringt. Den nachhaltigsten Eindruck machte mir außer Demian Die Morgenlandfahrt, die Tagebuchblätter, Siddhartha, Das Glasperlenspiel, Der Steppenwolf sowie Narziß und Goldmund.
Demian ist im Grunde kein Mensch an sich, da er von Sinclair, der die Geschichte erzählt, niemals getrennt ist. Demian ist Sinclair, sein wesentlicher Kern, ein archetypischer Held, wie er in der Tiefe von uns allen lebt. Anders ausgedrückt: Demian stellt das unwandelbare, unberührbare Selbst dar. Durch ihn versucht Hesse den magischen Gehalt des Daseins darzulegen. Es ist Demian, der dem jungen Sinclair die erlösende Erkenntnis vermittelt, daß eine Vielfalt von Wesen in ihm lebt. Er hilft ihm, das Chaos und die Gefahren der Pubertätsjahre zu überwinden. Gewiß sind manche unter uns solch starken, jungen Männern - wie Demian einer ist - begegnet, und haben ihnen Respekt und Bewunderung gezollt. Im Grunde genommen haben wir alle einen Demian in uns. Am Schluß des Buches tritt Demian im Feldlazarett an Sinclairs Bett, küßt ihn und sagt: "Höre, mein Kleiner, solltest du mich je wieder benötigen, dann erwarte nicht, daß ich in aller Öffentlichkeit, zu Pferde oder per Bahn, erscheine. Finde mich in dir selbst." Das hat Hesse in einer Zeit größter persönlicher Angst, während des Krieges, geschrieben. Auch er mußte Demian in sich selbst finden.
Natürlich ist diese Botschaft im Buch nicht so offenkundig ausgesprochen, eher ist sie auf magische Art und Weise angedeutet. Eine symbolische Wahrheit kann ja sowieso nur intuitiv verstanden werden. Wenn sie aber Gestalt annimmt, erhellt sie das ganze Wesen des betreffenden Menschen. Darum konnte ich damals die Straßen meiner Heimatstadt im Bewußtsein durchziehen, daß ein Neues in mein Leben getreten sei.
Das Leben enthält nicht nur Licht, sondern auch Schatten; aber wir möchten dieser Tatsache am liebsten aus dem Wege gehen. Stets richtet sich unser Streben nur auf das Licht und die hohen Gipfel. Von Kindheit an vermittelt uns die religiöse und akademische Erziehung Werte, die lediglich einer idealen Welt entsprechen. Die Schattenseiten des wirklichen Lebens werden ignoriert, und das abendländische Christentum gibt uns keine Deutung dafür. Die jungen Menschen der westlichen Welt sind deshalb nicht darauf vorbereitet, sich mit dem Nebeneinander von Licht und Schatten - die gemeinsam erst das Leben ausmachen - auseinanderzusetzen. Wie sollen sie da die Tatsachen des Lebens mit den ihnen vermittelten absoluten Werten in Übereinstimmung bringen können? Die Glieder der Kette, die das Leben mit den universalen Symbolen verbinden sollte, sind entzwei gegangen, der Zerfall setzt ein.
Im Orient, vor allem in Indien, ist es ganz anders. Eine alte, auf der Natur selbst gründende Zivilisation kennt einen Kosmos vielgestaltiger Götter. Das erlaubt es dem östlichen Menschen, das Vorhandensein von Licht und Schatten, von Gut und Böse, zu akzeptieren. Für ihn gibt es nichts Absolutes: wenn dadurch Gott entwaffnet wird, so auch der Teufel. Der Preis für ein solches Verständnis ist ein der Natur zu entrichtender Tribut. Folglich ist der Hindu weniger individualisiert als der westliche Mensch. Er ist lediglich etwas mehr als ein Bestandteil der Natur, ein Element der Kollektivseele.
Das Problem, dem sich der abendländische Christ gegenübergestellt sieht, lautet: kann er das Nebeneinander von Licht und Schatten, von Gott und Teufel annehmen, ohne gleichzeitig seine Individualität zu verlieren? Dazu ist es nötig, daß er den Gott entdeckt, der schon vor dem inkarnierten Christus "christlich" war und der auch nach ihm fortbesteht und wirkt. Der "Erlöser von Atlantis", einst offen und auch heute noch unter den tiefen Wassern unserer Zivilisation wirksam, würde einer solchen Gottheit entsprechen. Oder Abraxas, der Gott und Teufel in sich vereint. Als ich Demian las, begegnete ich zum erstenmal dem Namen Abraxas. Ich hatte aber seine Existenz bereits in meiner Kindheit geahnt. Im Herzen der Cordilleren hatte ich seine Gegenwart gespürt, und sie sprach zu mir aus den unermeßlichen Tiefen des Pazifischen Ozeans, der sich gegen unsere Küste wälzt. Dieses ignis fatuus und die in ihm lodernden Flammen des Himmels und der Hölle flackerten noch im Schaum seiner Wellen.
Abraxas ist ein Gott der Gnostiker und existierte schon lange vor Christus. Er kann mit dem atlantischen Christus verglichen werden und war den Ureinwohnern Amerikas, auch den Indianern meiner Heimat, unter anderen Namen bekannt.
Hermann Hesse spricht in folgenden Worten von ihm:
... Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den Bürgersteig und wird ein Fossil. Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er verläßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.
Das neuzeitliche Christentum und, ganz allgemein, die westliche Welt befinden sich in einem Zustand der Krise, und die noch offenen Wege sind alles andere als anziehend. Weder wünschen wir eine jener apokalyptischen Katastrophen herbei, wie sie die Geschichte der Vergangenheit kennt, noch wollen wir den Weg des Orients gehen, der den Menschen gering achtet und ein unweigerliches Absinken unseres Lebensstandards zur Folge hätte. Die einzige uns offenstehende Möglichkeit ist wahrscheinlich Abraxas, d.h. die Projektion unserer Seele sowohl auf das Außen wie auf das Innen, auf das Licht und auf die tiefen Schatten in uns, in der Hoffnung, daß wir in einer Verbindung der beiden dem reinen Archetypus begegnen werden. Dieser wäre das authentische Bild des in uns wohnenden Gottes, der - wie Atlantis - unter den Wassern unseres Bewußtseins begraben liegt. Abraxas würde demnach auch den ganzen, vollständigen Menschen meinen.
Für den Kenner von Hesses Werk sind Namen wie Narziß, Goldmund und Siddhartha ein Begriff. Es sind Figuren, die viel Gemeinsames haben, enthalten doch alle Bücher Hesses dasselbe Leitmotiv. So wie Sinclair und Demian ein und dieselbe Person sind, so stellen auch Narziß und Goldmund zwei wesentliche Tendenzen im Menschen dar: Kontemplation und Aktion. Ähnlich stehen Siddhartha und Govinda für die einander entgegengesetzten Eigenschaften Devotion und Rebellion. All diese Eigenschaften sind in uns Menschen enthalten: wir lieben uns selbst, können aber auch unseren Mitmenschen gegenüber barmherzig sein; wir werden zerrissen zwischen dem Wunsch nach Intro- und Extraversion. Das Glasperlenspiel enthält die Themen von Liebe, Mitleid und Verstehen. Hesse entwickelt es zu Fugen und Arabesken, wie sie die musikalische Seele des Deutschen liebt. Seine Auffassungen sind durch den Hinduismus, den chinesischen Taoismus, den Zen-Buddhismus, ja sogar durch die mathematischen Wissenschaften beeinflußt! Das alles ist in eine Form zusammengeschmolzen, die so rein ist wie eine Bachsche Fuge oder ein Gemälde von Leonardo.
Als ich Hermann Hesse zum erstenmal traf, erschien er mir eher als Narziß denn als Goldmund. Seine Wanderfahrten waren vorbei, er führte ein Leben der Introversion und Zurückgezogenheit in Montagnola. Trotzdem existierten in ihm bis zu seinem Lebensende sowohl Narziß wie auch Goldmund. Ich selber war damals eher ein Goldmund, obschon ich ebenfalls zwischen diesen beiden Wesensarten hin- und hergerissen wurde. Wie Siddhartha, war es auch mir vergönnt, dem Weisen des öfteren und unter verschiedenen Aspekten zu begegnen. Beim ersten Besuch trug ich einen Rucksack und unter dem Arm ein Buch. Ich war jung und hatte mein Land zum erstenmal verlassen.
Ich kam im Juni 1951 in die Schweiz und mußte erfahren, daß nur wenigen Menschen der Aufenthaltsort von Hesse bekannt war. Erst nach langen Rückfragen sagte man mir in Bern, er wohne im Tessin. Also reiste ich nach Lugano, dort schickte man mich nach Castagnola. Ich fuhr mit dem Autobus hin und fand heraus, daß Hesse in Montagnola lebte. Ein anderer Bus führte mich schließlich in den am Berghang gelegenen Ort, mit seiner herrlichen Aussicht auf die Schneeberge und den Luganersee. Unser Fahrzeug wand sich durch die engen Gassen, und als es anhielt, stieg gleichzeitig mit mir eine junge Frau aus. Ich erkundigte mich bei ihr nach Hesses Haus, und es stellte sich heraus, daß sie als Dienstmädchen bei ihm tätig war. So machten wir uns zusammen auf den Weg. Als wir vor dem Gartentor ankamen, dunkelte es bereits. Eine Tafel verkündete: "Bitte keine Besuche!" Ich folgte der Frau auf dem von hohen Bäumen umsäumten Weg. An der Haustür befand sich eine zweite Inschrift, die - wie ich später erfuhr - aus dem Chinesischen übersetzt war und hieß:
Wenn einer alt geworden ist und das Seine getan hat, steht ihm zu, sich in der Stille mit dem Tod zu befreunden. Nicht bedarf er der Menschen ... Er kennt sie, er hat ihrer genug gesehen.
Wessen er bedarf, ist Stille.
Nicht schicklich ist es, einen solchen aufzusuchen, ihn anzureden, ihn mit Schwatzen zu quälen.
An der Pforte seiner Behausung ziemt es sich, vorbeizugehen, als wäre sie Niemandes Wohnung.
Es war zu dunkel, als daß ich die Inschrift hätte lesen können. Die junge Frau führte mich in einen Korridor und hieß mich dort Platz nehmen. Auf ihre Frage nach meiner Visitenkarte übergab ich ihr ein für Hermann Hesse mitgebrachtes Exemplar meines Buches Neither by Sea nor Land, das ich mit einer Widmung in spanischer Sprache versehen hatte. Die Frau verschwand, und ich wartete in der mich umgebenden klösterlichen Stille. Dann spürte ich einen leisen Duft von Sandelholz, und die Tür öffnete sich. Eine schlanke Gestalt, ganz in Weiß gekleidet, trat aus dem Dunkel. Es war Hesse. Ich erhob mich und folgte ihm in einen mit großen Fenstern versehenen Raum. Und nun sah ich ihn: die hellen, leuchtenden Augen im schmalen Gesicht. In seinem weißen Gewand wirkte er wie ein Asket oder Büßer. Ein Duft von Sandelholz umgab ihn. Er lächelte und sagte: "Leider sind Sie zu einem schlechten Zeitpunkt gekommen. Wir wollten nämlich gestern auf Urlaub fahren, meine Frau wurde jedoch von einer Biene gestochen, so daß wir die Reise verschieben mußten. Alles geht hier drunter und drüber. Am besten gehen wir wohl in mein Arbeitszimmer." Durch die Bibliothek, mit den vielen bis zur Decke reichenden Büchergestellen, betraten wir einen kleineren Raum. Auch hier waren die Wände von Büchern und Bildern bedeckt, während sich in der Mitte ein abgeräumter Schreibtisch befand. Hesse setzte sich mit dem Rücken zum Fenster, und ich nahm ihm gegenüber Platz. Die Sonne ging über dem See und den fernen Bergen unter. Hesse saß schweigend, aber noch immer lächelnd, da. Es war, als wollte er warten, bis Frieden und Stille von uns Besitz ergriffen hätten.
Ich war durchdrungen vom Ernst der Stunde und fühle heute noch, wie intensiv ich damals alles erlebte und wie mein ganzes Wesen mit Zittern und Bangen eine solche Begegnung in sich aufnehmen konnte. Es war eine Zeit, in der Begegnungen noch möglich waren. Hier saß ich vor dem Gegenstand meiner Verehrung. Ich hatte Meere durchkreuzt, um ihn zu sehen, und die mir zuteil gewordene Begrüßung war durchaus im Einklang mit den Gefühlen, die mich meine Pilgerfahrt hatten antreten lassen.
Hermann Hesse machte auf mich den Eindruck des Zeitlosen. Er hatte zwar sein 73. Lebensjahr vollendet, aber sein Lächeln war das eines jungen Mannes geblieben. Sein Körper wirkte beherrscht und vergeistigt.
"Ich bin von weither gekommen, um Sie zu treffen", begann ich. "In meiner Heimat schätzt man Sie außerordentlich."
"Ja, es ist seltsam, daß meine Bücher in der spanischsprachigen Welt so viele Leser finden", antwortete Hesse, "ich erhalte sehr oft Zuschriften aus Lateinamerika. Es würde mich interessieren zu erfahren, was Sie von den neueren Übersetzungen meiner Bücher halten, besonders vom Glasperlenspiel."
Ich gab ihm meine Ansicht bekannt und fügte bei, daß vor allem die Übersetzung von Narziß und Goldmund sehr schön den Geist und die Ursprünglichkeit des Originals wiedergebe. Anschließend unterhielten wir uns über allgemeinere Dinge, und er meinte:
"Narziß und Goldmund verkörpern zwei sich entgegengesetzte Tendenzen in der menschlichen Seele: Kontemplation und Aktion. Eines Tages müssen sie damit beginnen, sich zu vereinigen ..."
Ich unterbrach ihn: "Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. Auch ich lebe unter der Spannung zwischen diesen beiden Extremen. Ich träume einerseits von der Ruhe, die mir die Kontemplation verheißt, anderseits drängt mich die Notwendigkeit zu leben in die Aktion ..."
"Sie sollten sich treiben lassen, wie die Wolken am Himmel, und Sie sollten nicht widerstreben. Gott ist in Ihrem Schicksal ebenso wirksam wie in den uns umgebenden Bergen oder dem uns zu Füßen liegenden See. Es ist schwer, das zu verstehen, denn der Mensch entfernt sich mehr und mehr von der Natur und von sich selbst ..."
"Glauben Sie, daß uns vielleicht die Weisheit des Ostens helfen kann?" fragte ich.
"Mich hat die chinesische Weisheit sehr beeinflußt, mehr als die Upanischaden oder der Vedanta", war seine Antwort. "Der I Ging kann tatsächlich ein Leben verändern ..."
Der späte Nachmittagshimmel verblich mehr und mehr. Ein blaues Licht färbte die Fenster und umspielte Hesses zarte Gestalt.
"Bitte sagen Sie mir, haben Sie hier in diesen Bergen den Frieden gefunden?" Hesse schwieg auf meine Frage, ohne aber sein mildes Lächeln zu verlieren. Beinahe konnten wir das Singen des Nachmittagslichtes und die Stille der uns umgebenden Dinge hören. Dann sagte er:
"Wenn Sie der Natur nahe sind, dann können Sie auch Gottes Stimme vernehmen."
Nach einem längeren Schweigen spürte ich, daß es Zeit sei, mich zu verabschieden. Hesse schenkte mir ein kleines, von ihm selbst gemaltes Aquarell und schrieb auf die Rückseite: "Ricordo di Montagnola." Er liebte es, mit Wasserfarben zu malen, und schuf recht beachtliche Bilder. Er begleitete mich zur Tür und schüttelte mir zum Abschied wie einem alten Freund die Hand. "Wenn Sie das nächste Mal kommen, lebe ich vielleicht nicht mehr", sagte er dabei.
Das also war meine erste Begegnung mit ihm. Wer noch jung genug ist, um Fragen zu stellen, wie ich sie Hesse stellte, oder wie Siddhartha Buddha fragte, wird mich verstehen.
Es fuhr kein Bus mehr zurück nach Lugano, aber ein junger Mann nahm mich auf dem Rücksitz seines Motorrades mit. Noch in der gleichen Nacht erreichte ich Florenz, die vom Zauber der Renaissance erfüllte Stadt. Doch wir befanden uns in den Nachkriegsjahren, und das verarmte Italien suchte seine Zuflucht im Dollar und im Alkohol der Besatzungstruppen.
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